Kandel – Wir alle sind Kandel

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
jeder von uns allen hier war entsetzt, als er von dem furchtbaren Mord an der jungen Mia hörte.
Und er war ein zweites Mal schockiert, wenn er ins Internet schaute: Über das, was an unerträglichen Kommentaren, an Hass auflief. An Drohungen.
Kandel hat in ganz Deutschland Trauer um Mia und Mitgefühl für ihre Familie ausgelöst, viele fragen: Warum verliert ein Mädchen auf so sinnlose Weise sein junges Leben?
Aber Wut und Verzweiflung darüber dürfen nicht zu voreiligen Schuldzuweisungen führen. Nicht zum Ruf nach scheinbar einfachen Lösungen verleiten.
Die Aufmärsche in Kandel. Nicht jeder, der sich daran beteiligt, ist ein Rechtsradikaler. Doch jeder, der mitmacht, muss sich darüber im Klaren sein, in wessen Gesellschaft er durch die Straßen läuft. Er sollte wissen, wie rechtsextreme Netzwerke Kandel für eigene Zwecke missbrauchen. 
Denn diesen Leuten, diesen Gruppierungen, ist das Leid der Familie und Freunde von Mia egal. Sie versuchen gezielt, den Mord für eigene Zwecke zu nutzen, um propagandistisch die gesellschaftliche Stimmung zu beeinflussen. Genau das ist das Geschäft, das Extremisten, Radikale, von Rechts wie von Links, beherrschen. 
Provozieren, manipulieren, anheizen.
Es geht nur um eines: Um eine möglichst laute Hör- und Sichtbarkeit. Auf der Straße und im Internet. Um größer zu erscheinen, als man ist. Deshalb wird Hass instrumentalisiert. Gegen Flüchtlinge, gegen Muslime, gegen Juden, gegen Frauen, gegen Politiker. Kritik, mag sie noch so heftig sein, auch wütende Proteste – all das gehört zur Demokratie. Das erträgt Demokratie. Das sind Freiheiten, die nur ein Rechtsstaat geben kann und die es so nur in einem Rechtsstaat gibt. 
Aber niemand sollte sich im Recht fühlen dürfen, wenn er menschenverachtend und hetzerisch unterwegs ist. Ob auf der Straße oder im Internet, analog oder digital.
Es gibt Taten und Grenzsituationen im Leben, die sind nicht vorhersehbar. Sie geschehen. Und keine Behörde, kein Gesetz, keine Macht der Welt, kann sie verhindern. 
Aber die Politik, der Gesetzgeber ist gefordert, das, was unseren Rechtsstaat ausmacht, immer wieder an neue Bedingungen anzupassen und Probleme nicht einfach kleinzureden. Dafür zu sorgen, dass sich unsere Bürgerinnen und Bürger sicher fühlen können. Dass sie sich durch Gesetze beschützt fühlen. Denn darauf haben sie ein Recht. So wie Flüchtlinge ein Recht auf unsere Hilfe haben. 
Und genauso wie der Staat das Recht hat, zu erfahren, wer zu uns ins Land kommt und wie alt er ist. Für die Zukunft unserer Demokratie ist eine Politik wichtig, die auf Zusammenhalt setzt, nicht auf Polarisierung. Anfang der Woche hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Rheinland-Pfalz besucht.In seiner Rede hat er die Deutschen dazu aufgerufen, sich für die Demokratie und die offene Gesellschaft zu engagieren.
Genau das tun wir heute – miteinander.
Lassen Sie uns mit aller Kraft für Offenheit und Toleranz, für Freiheit und Gleichberechtigung eintreten. Für das eintreten, was wir unter gutem Leben verstehen. Ich wünsche der Familie, den Freunden von Mia, viel Kraft, um die Trauer zu bewältigen. Und ich wünsche den Bürgerinnen und Bürgern von Kandel viel Mut und Toleranz, um deutlich zu machen:
In Kandel ist kein Platz für Hetze, Fremdenfeindlichkeit und radikale Parolen.
Sondern für Zusammenhalt, Ruhe und ein gutes Miteinander.
Wir alle sind Kandel.